Ein markantes Zeichen auf dem Weg in die Zukunft
Die Paralympics Tokyo 2020 sind zu Ende, und sie waren aus Schweizer Sicht überaus erfolgreich. 14 Medaillen bringen die 13 Athletinnen und 8 Athleten mit nach Hause, davon sieben Mal Gold, vier Mal Silber, drei Mal Bronze.
Zuletzt gab es 2004 in Athen mehr Medaillen bei Sommer-Paralympics (16). Im Medaillenspiegel liegt die Schweiz auf Rang 19, besser war sie zuletzt 1996 in Atlanta, mehr als sieben Goldene gab es 2000 in Sydney (8). Was hier nicht unerwähnt bleiben darf: In den vergangenen Jahren hat im Para-Sport weltweit eine extreme Professionalisierung stattgefunden.
Das Schweizer Team hat in Tokio im vierfachen Paralympics-Sieger Marcel Hug und der fünffachen Medaillengewinnerin Manuela Schär die herausragenden Athlet*innen dieser Spiele. Es hat in Heinz Frei den Altmeister, der es mit Silber im Strassenrennen den Jüngeren nochmal gezeigt hat und an seinen 16. Paralympics die 35. Medaille gewonnen hat. Es hat in Catherine Debrunner (26 Jahre, Gold 400 m, Bronze 800 m), Elena Kratter (25, Bronze im Weitsprung) und der erst 18-jährigen Nora Meister (Bronze 400 m Freistil) aber auch Athletinnen einer neuen Generation, die bereits für Furore in Form von Medaillen sorgen. Nicht zu vergessen Hoffnungsträger*innen wie Handbiker Fabian Recher oder Tennisspielerin Nalani Buob.
Roger Getzmann: "Wir haben auch ausserhalb der Medaillenränge einige sehr gute Leistungen gesehen"
Entsprechend zufrieden fällt die Bilanz von Roger Getzmann, Chef de Mission, aus. “Ich bin mit dem Abschneiden insgesamt sehr glücklich, weil wir auch ausserhalb der Medaillenränge einige sehr gute Leistungen gesehen haben”, sagt er und denkt etwa ganz aktuell an die Badmintonspielerinnen Cynthia Mathez und Karin Suter-Erath, die sowohl im Einzel wie im Doppel zeigten, welche erstaunliche Entwicklung sie hinter sich haben. Als Prognose hatte Getzmann vor den Spielen sechs Medaillen ausgegeben, aber er sagt auch: “Als wir uns das Programm angeschaut haben, sind wir auf 14 realistische Medaillenchancen gekommen, nur werden normalerweise nicht alle umgesetzt.” Genau das ist in Tokio gelungen, Getzmann erinnert aber auch an Rio 2016, wo es andersherum gelaufen ist: Damals ist das Team mit exakt gleich vielen realistischen Chancen angereist, am Ende waren es 5 Medaillen.
Soviel hat diesmal alleine Manuela Schär gewonnen. Ihr ist das Glück in diesen Stunden anzusehen, aber auch sie denkt immer an Rio. Da war sie ebenfalls fünfmal am Start, es gab keine Medaille, aber zwei 4. Plätze. In Tokio spricht Schär von ihrer langen Reise zu der Athletin, die sie heute ist - auf der es aber genau diesen Umweg über Rio gebraucht habe, “Misserfolge sind die besten Lehrer”, sagt sie. Jetzt geht es für sie vor allem darum, nach Hause zu kommen, zu den Liebsten, um all die Emotionen zu teilen. Auch Marcel Hug sind die Strapazen anzumerken, mehrmals ringt er bei den verschiedenen Interviews nach Worten. Als er im Marathon nach 7 Kilometern merkt, dass sich der Gummi am Triebreifen des linken Rads löst, bringt ihn das mental fast an die Grenze, er weiss nicht, wieviel Kraft er überhaupt noch aufwenden darf. Es geht gut, aber es ist jetzt auch für ihn Zeit, heimzukommen, abzuschalten, zu regenerieren.
12 der 14 Medaillen wurden in der Leichtathletik gewonnen
Was auffällt in Tokio: 12 der 14 Medaillen wurden in der Leichtathletik gewonnen, davon wiederum 9 von zwei Athlet*innen, die die 30 Jahre bereits überschritten haben. Hug ist 35 Jahre, Schär 36 Jahre. Sie hat in Tokio schon darüber sinniert, dass das Karriereende irgendwann ein Thema sei. Und sie hat zur Medaillenflut auch gesagt: “Wir dürfen uns nicht blenden lassen. Die Arbeit muss weitergehen, und man darf sich nicht auf einzelne Athleten so fest verlassen.” Der Para-Spitzensport müsse breiter abgestützt werden, vor allem müssten sich auch sehr viele junge Athletinnen aufdrängen, “ich hoffe, wir konnten ein Zeichen setzen, dass es auf diesem Weg weitergeht.” Getzmann sieht das sehr ähnlich. “Im Erfolg werden oft die grössten Fehler gemacht”, sagt er. Man müsse sich klar machen, dass auch jetzt nicht wirklich alles optimal gelaufen sei, gerade das müsse genau analysiert werden.
Getzmann stimmt Schär auch in Bezug auf den Nachwuchs zu. Da dürfen die Bemühungen ebenfalls nicht nachlassen. “Es hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan”, sagt er, gibt aber zu bedenken, dass es in der Schweiz erfreulicherweise vergleichsweise wenig Menschen mit Behinderung gibt. “Das heisst natürlich auch, dass wir die Betreuung bei denjenigen besonders gut gestalten und optimieren, die zu uns in den Spitzensport kommen.”
Drei Aushängeschilder verabschieden sich von den Paralympics
Drei der langjährigen Aushängeschilder haben in Tokio ihren Rücktritt von der ganz grossen Bühne erklärt. Frei (63) nach seinem grossartigen Auftritt voller Emotionen und Tränen in den Augen. Handbikerin Sandra Graf (51) mit enttäuschter Miene nach Rennen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht genügten. Rollstuhlsprinter Beat Bösch (49) mit gemischten Gefühlen, weil er über 100 m Fünfter wurde, sich bei der Ausrüstung etwas verpokert hatte, der Regen aber genau dann aussetzte. Alle drei werden fehlen, weil sie mit ihrer Persönlichkeit, ihren ungezählten Erfolgen und ihrem unbändigen Willen wichtige Botschafter*innen des Schweizer Para-Sports sind.
Aber im Cycling-Team haben Sandra Stöckli und Tobias Fankhauser gezeigt, was sie drauf haben, Fankhauser wurde im Strassenrennen 4., nur drei Ausnahmeathleten lagen vor ihm, Stöckli erkämpfte sich im Zeitfahren als 8. ein Diplom, “es het mega gfägt”, sagt sie in ihrer unnachahmlichen Art. In der Leichtathletik war die Begeisterung von Sofia Gonzalez geradezu ansteckend, über 100 m kam sie mit neuer persönlicher Bestzeit in den Final. Sprinter Philipp Handler erreichte sein gesetztes Ziel, er erreichte den 100-m-Final, wurde 7. und war doch nicht ganz zufrieden wegen der Zeit. Patricia Eachus erkämpfte sich nach durchwachsenem Start in Tokio mit persönlicher Bestzeit im Marathon doch noch ein versöhnliches Ende. Schützin Nicole Häusler hatte das Pech, dass sie in der Disziplin, die ihr am meisten liegt, vom wechselnden Sonnenlicht entscheidend irritiert wurde. Dressurreiterin Nicole Geiger unterlief mit Amigo nach starkem Auftakt ein Patzer, den sie sich selbst am wenigsten verzeiht. Neben Nora Meister nutzte im Schwimmteam der noch um ein Jahr jüngere Leo McCrea die Chance, sich mit den Besten zu messen, um noch klarer seine sportliche Zukunft vor sich zu sehen. Tischtennisspieler Silvio Keller, kurz vor den Spielen überraschend nachnominiert, machte das Beste aus dieser schönen, aber sportlich nicht einfachen Situation.
Was bleibt von Tokyo 2020?
Was bleibt von den Pandemie-Paralympics jenseits der Schweizer Erfolge? Natürlich haben die Zuschauer gefehlt, was für die Para-Sportler*innen doppelt bedauerlich ist, weil sie in Japan generell sehr viel Zuspruch und Unterstützung geniessen. Es bleibt die Freundlichkeit der Menschen, die sich als sehr gute Gastgeber zeigen wollten, was ihnen in jeder Hinsicht gelang. Getzmann lobt Land, Stadt und vor allem die Menschen, die unter den gegebenen Umständen extrem viel tragen mussten, gerade auch in finanzieller und organisatorischer Hinsicht. Überzeugt hat ihn auch das Sicherheitskonzept, es habe innerhalb des Village und der paralympischen Anlagen sehr wenig Infizierte gegeben. Die Schweizer Delegation ist komplett verschont geblieben.
Schon in drei Jahren geht es in Paris weiter mit den nächsten Sommer-Paralympics. Einige der Jungen haben so richtig Lust darauf bekommen. Ob Manuela Schär und Marcel Hug dann nochmals dabei sein werden, das ist allerdings zumindest momentan nicht gesichert.
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Foto: Gabriel Monnet
Text: Christian Andiel